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wesen ist und was noch kommen wird. Und mittendrin lebe ich. Wenn ich tot bin, lebe ich nicht mehr. So einfach ist das. Aber ich mach mir Sorgen, daß niemand begreift, wie wichtig es ist, ein Tau in den Schnee zu legen, wenn es mich mal nicht mehr gibt. Ich wünschte, ich hätte einen Lehrling...« »Warum kurvst du nachts mit deinem Laster in der Ge- gend herum?« fragt Joel. Er hofft, der alte Maurer erkennt ihn wieder als den Jungen, dem er aus dem Schnee aufge- holfen hat, als das Fliegende Pferd umgefallen war. Aber Simon Urväder erkennt ihn nicht. Er liegt im Schnee und blinzelt zum Himmel hinauf. »Ich kann nicht mehr schlafen«, antwortet er. »Es gibt nichts Schlimmeres für einen einsamen Menschen, als in einem einsamen Bett in einem einsamen Haus zu liegen. Dann setz ich mich in meinen Laster und fahr los. Beim Fahren singe ich. Ich denke an all die Jahre, die ich im Krankenhaus gewesen bin, und dann sing ich mir all die schrecklichen Erinnerungen weg. Kummer kann man weg- singen. Schreckliche Erinnerungen kann man wegpfeifen, so daß sie sich nie wieder zu einem her trauen...« Plötzlich richtet er sich im Schnee auf und sieht Joel an. »Vielen Dank, daß du mir geholfen hast«, sagt er. »Aber jetzt mußt du gehen. Ich will meine Ruhe haben. Komm ein andermal wieder, dann kriegst du eine Suppe von mir. Wenn du die ißt, kannst du in die Zukunft sehen.« »Das kann man ja gar nicht«, sagt Joel. »Das kann man wohl«, antwortet der alte Maurer. »Wenn du wiederkommst, beweis ich dir das.« Dann steht er auf und trottet zwischen den Tannen davon. Joel geht weiter. Er probiert, ob es stimmt, was der alte Maurer gesagt hat. Daß man wegsingen kann, woran man nicht denken will. »Winde weh'n, Schiffe geh'n, weit in ferne Land«, das kann er auswendig. Sara mit dem roten Hut fällt ihm ein, und er singt laut und falsch. Aber nach dem ersten Vers steht sie immer noch vor ihm und streichelt ihm die Wange. Nach dem zweiten Vers, an den er sich nicht genau erinnert, verschwindet sie langsam. Nach dem dritten Vers ist sie ganz verschwunden. Aber sobald er aufhört zu singen, kommt sie wieder. Ich singe zu falsch, denkt er, dann hilft es nichts... Er kehrt zurück zum Haus am Fluß. Es hat angefangen zu schneien, und er geht mit schleppenden Schritten. Heute muß ich mit ihm reden, denkt er, mit Samuel. Wenn er mir nur sagt, wo Mama Jenny ist, dann kann er auf Saras Bettkante sitzen und seine Narbe zeigen, soviel er will... Obwohl er lieber nicht daran denken will, weiß er genau, was es heißt, wenn Samuel nackt auf Saras Bettkante sitzt. Das könnte bedeuten, daß er auch unerwünschte Geschwi- ster bekommen könnte. Schwestern, denkt er, bloß Schwestern. Lauter kleine Sa- ras mit roten Hüten... Er stampft und trampelt, als er die Treppe hinaufgeht. Es hallt zwischen den Wänden wider, und er weiß, daß die alte Westman keinen Lärm mag. Aber wenn seine Schritte widerhallen, kann er wenigstens sicher sein, daß es ihn gibt... Er macht Feuer im Herd und sieht, wie die Flammen zwi- schen den Holzscheiten herumhüpfen. Er steckt einen Fin- ger hinein und probiert aus, wie lange er es aushält, ehe er sich verbrennt. Dann beschließt er, Samuels Zimmer zu durchsuchen. Irgendwo müssen die Fotos ja sein. Jetzt wird er sie finden. In Samuels Zimmer gibt es ein Bett und einen Stuhl, einen Tisch mit dem Radio und einer Leuchte und ein Regal mit Büchern. Im Schrank hängen seine Kleider. Das ist alles. Joel sieht sich im Zimmer um und versucht sich vorzustel - len, wo er selber Fotos verstecken würde. Aber er weiß, daß Erwachsene merkwürdigerweise anders denken als Kinder. Häufig denken sie sich viel schlechtere Verstecke aus. Joel durchsucht die schlechten Verstecke. Unter dem Kopfkissen, zwischen Bücherregal und Tapete, in den Fu- gen vom Linoleumbelag. Dort sind sie nicht. Dann schüt- telt er jedes einzelne Buch aus. Keine Fotos fallen heraus. Dann durchsucht er die Tischschublade, in der das Ta- schenmesser mit dem Griff aus Perlmutter zwischen einem Haufen Papiere und Samuels Seemannsbuch liegt. Auch dort sind keine Fotos. Samuel hat also kein schlechtes Versteck gewählt. Jetzt muß Joel noch einmal nachdenken. Gute Verstecke sind Verstecke, an die man nicht einfach so denkt. Stellen, die man nicht sieht, die man nicht mal be- merkt. Ein gutes Versteck kann unter einer Zeitung sein. Er hebt die Zeitung hoch, aber darunter ist nichts als Staub. Ein anderes gutes Versteck kann unter einer gestickten Decke sein, die Samuel von der alten Westman bekommen hat. Joel hebt die Decke hoch. Und dort liegen die Fotos. Aber nicht nur die Fotos, sondern auch ein Brief. Er nimmt die Fotos und den Brief und setzt sich damit in die Fensterni- sche im Flur, von wo aus er die Straße überblicken kann und Samuel rechtzeitig bemerkt. Er betrachtet die Fotos genau. Aber er findet keine beson- dere Ähnlichkeit mit sich und seiner Mama Jenny. Er holt Samuels Rasierspiegel aus der Toilette und hält ihn so, daß er sein eigenes Gesicht und das von Mama Jenny gleichzei - tig sehen kann. Vielleicht ist da doch ein bißchen Ähnlichkeit? Er ver- sucht, ein Gesicht zu machen wie Mama Jenny. Bewegt die Lippen vor und zurück, zieht eine Augenbraue hoch, spannt die Wangen an. Schließlich meint er, sein Gesicht so verändert zu haben, daß es stimmt. Jetzt sieht man, daß da eine Ähnlichkeit besteht. Sie ist nicht groß, aber sie ist da. Plötzlich merkt er, daß er vergessen hat, die Straße im Auge zu behalten. Zwei kleine Kinder laufen vorbei, ein Bus klappt den Winker heraus, um zu zeigen, daß er nach links abbiegen will. Aber Samuel kommt nicht aus dem Wald getrottet. Joel legt die Fotos auf die Fensterbank und betrachtet den Brief. Er stellt fest, daß er in Göteborg abgestempelt ist. Am neunzehnten November. Aber in welchem Jahr, das kann er nicht erkennen. Vorsichtig nimmt er den Brief aus dem Kuvert. Er ist zwei- mal gefaltet und auf beiden Seiten mit Tinte beschrie- ben. Erstaunt stellt Joel fest, daß es Samuels Schrift ist. Ganz unten auf der letzten Seite steht »Dein treuer Samuel«. Joel untersucht den Umschlag. »An Samuel Gustafson, Seemannsheim, Göteborg.« Hat er einen Brief an sich selbst geschrieben? denkt Joel. Er schaut auf die Straße. Jetzt fällt der Schnee in dichten, schweren Flocken. Der Laufjunge von der Sägemühle kommt mit einem Paket die Straße entlang. Joel sieht, wie er es von einer Hand in die andere wechselt. Das Paket scheint schwer zu sein... Joel liest, was Samuel geschrieben hat. Er schreibt, daß er an diesem Tag auf der M/S »Vassi-
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